Changewriters: Schreiben als Ventil

von Martina Jansen (Kommentare: 0)

Einfache Methoden für schwierige Klassen

Hatten Sie schon mal das Gefühl, in eine Löwengrube gefallen zu sein? Jörg Knüfken kennt dieses Gefühl von seinem ersten Arbeitstag. 2003 hatte er seine berufliche Laufbahn gewechselt und war zum Schulsozialarbeiter an zwei Dinslakener Hauptschulen bestellt worden. Seine erste Aufgabe: Mal eben zwanzig Minuten auf eine Klasse aufpassen. Das gestaltete sich allerdings schwierig, besser gesagt unmöglich. „Die Schüler in der Klasse nahmen mich so gar nicht wahr, liefen durch den Raum, riefen sich irgendwelche Dinge zu und machten Witze“, berichtet Knüfken. Dass er die zwanzig Minuten überstanden hatte, ohne körperlich angegangen zu werden, nahm er fast schon als Erfolg hin. „Seit diesem Erlebnis verging nicht ein Arbeitstag, an dem ich nicht überlegte und grübelte, wie die großen Herausforderungen meiner Schulen zu meistern wären“, erinnert er sich.

Dann stolperte Jörg Knüfken eher zufällig über den Film „Freedom Writers“. Der Film erzählt die wahre Geschichte von Erin Gruwell. Diese amerikanische Lehrerin hatte 1994 kurz nach den Rassenunruhen von Los Angeles eine Klasse mit als unbeschulbar geltenden Jugendlichen übernommen. Gewalterfahrungen, Drogen und Rassismus hatten das Leben der Schüler so dominiert, dass sie von dem normalen Schulsystem kaum noch erreicht werden konnten. Gruwell schaffte es mit einfachen Mitteln, die Schüler dann doch zu erreichen und mit ihnen eine vertrauensvolle und produktive Beziehung zu erschaffen.

Foto oben rechts: Jörg Knüfken und Bärbel Guske

Eine Schlüsselmethode war dabei die Idee, den Schülern ein Tagebuch zu schenken. Aufgabe war es, jeden Tag etwas einzutragen. Dabei konnten sie selbst entscheiden, was sie niederschreiben würden. Auch konnten sie einfach nur für sich schreiben oder es auch die Lehrerin lesen lassen. Dadurch bekamen die Schüler ein Werkzeug in die Hand, ihren oft schwierigen Alltag zu reflektieren. Nach und nach lernte Gruwell ihre Klasse so immer besser kennen. Das Klima im Klassenraum wurde schlagartig besser, und die Noten der Schüler erholten sich spürbar.

Konnte das auch in Deutschland funktionieren? Warum nicht einfach ausprobieren, dachte sich Jörg Knüfken. Er zeigte seinen Schülern  den Film und besorgte Tagebücher für seine Schüler. Nach viel Skepsis und einem holprigem Start setzte sich erst unbemerkt, dann umso deutlicher eine Veränderung in Gang. „Nach drei Monaten hatte sich die Situation komplett gedreht“, erzählt Knüfken. „Aus der schlimmsten Klasse, in der ich je war, verwandelte sich dieser Ort plötzlich. Schließlich war es so, als ob ich in mein Wohnzimmer komme.“

Die Schüler hatten endlich eine Art Ventil gefunden. „Heute waren wir alle eine Katastrophe“, schreibt ein Junge in sein Buch. „Der Herr Knüfken war richtig wütend. Ich habe ihn das erste Mal so gesehen. Und das Meiste ist auch wegen mir.“ Andere Einträge zeigen die großen Probleme, mit denen die Kinder und Jugendlichen fertig werden müssen. Ein Schüler notiert: „Mein schlimmstes Erlebnis war, als meine Geschwister und ich von meinen Eltern weggenommen wurden. Wir sind alle in unterschiedlichen Heimen untergebracht worden.“ Ein anderer: „Früher ist mein Vater immer ausgerastet, wenn ich einen kleinen Fehler gemacht habe. Er hat mich geschlagen, aber auch meine Schwester, meinen Bruder und meine Mutter.“ Oder: „Ich habe keinen Bock mehr auf mein Leben. Einige reden schlecht über mich. Sie lügen dabei und reden nur Unsinn. Wie ich sie hasse!“

Die Jugendlichen lernten auch ihre Klassenkameraden besser kennen. Jörg Knüfken benutzte dafür eine Methode, die er von Erin Gruwell übernommen hatte. Beim „Linienspiel“ wird eine lange Linie aus Kreppband auf den Boden geklebt oder mit Kreide aufgemalt. Der Leiter stellt eine Frage, aber niemand sonst darf sprechen. Wenn die Antwort „Ja“ ist, treten die Teilnehmer stattdessen an die Linie. Neben Alltagsfragen wurden auch schwierige Themen angesprochen. „Leben Deine Eltern getrennt?“, „Wurdest Du zuhause schon einmal geschlagen?“, „Ist ein wichtiger Mensch in Deinem Leben gestorben?“ Wenn die Jugendlichen an die Linie treten, sehen sie auf einmal, dass sie damit nicht allein sind. Manche hatten dabei Tränen in den Augen, andere waren überrascht, dass es ihren Mitschülern auch oft schwer geht. 

„Beziehungsarbeit“, so Jörg Knüfken, „ist für den Bildungserfolg entscheidend.“ Als er merkte, dass das Konzept funktioniert, gründete er 2014 einen Verein unter dem Namen „Changewriters“. Zusammen mit Mitstreitern wollte er Schulen beraten, wie sie die Methode zur Verbesserung ihres Unterrichtes einsetzen können. Mit Erfolg: Eine Stiftung wurde auf den Verein aufmerksam und sorgte für die nötige finanzielle Unterstützung. Seit 2016 arbeitet Jörg Knüfken hauptamtlich als Changewriter. Inzwischen gibt es über zehn erfahrene Mitarbeiter, 35 Partnerschulen, und in Süddeutschland wird gerade ein neues Changewriters-Büro gegründet.

Foto oben rechts: Jörg Knüfken

Eine, die die Methoden aus der Praxis kennt, ist Bärbel Guske. Die Lehrerin hat bereits an mehreren Dorstener Schulen erfolgreich mit dem Changewriters-Konzept gearbeitet. „Früher habe ich mich oft gefragt, was mache ich hier eigentlich“, berichtet sie. „Wir haben viel zu wenig Zeit, um mit den Schülern richtig zu sprechen. Immer steht nur der Unterrichtsstoff im Vordergrund.“ Durch das Changewriters-System fühle sie sich endlich wieder im richtigen Beruf. „Wir schaffen eine Atmosphäre, in der sich die Schüler getragen und wohl fühlen“, erklärt sie. So könnten die Kinder und Jugendlichen viele Blockaden abbauen und ungeahntes Potential freisetzen. 

Im Gespräch mit Bärbel Guske wird eins deutlich: Natürlich ist auch die Changewriters-Methode kein Zauberkasten, mit dem alles sofort wieder gut wird. Und natürlich muss viel Arbeit investiert werden. Aber man kommt damit auch in schwierigen Klassen gut voran. Jörg Knüfken erzählt von einer Schülerin, die sich von Lehrerzimmers Alptraum zu einer motivierten und ehrgeizigen Persönlichkeit entwickelt hatte. Auf einer Preisverleihung wurde sie gefragt, was sie sich in der Schule noch wünschen würde. „Ich hätte mir gewünscht“, antwortete sie, „dass mich mal einfach jemand fragt: Wie geht es Dir?“

Foto oben rechts: Bärbel Guske

Text: Oliver Borgwardt
Fotos: Christian Sklenak

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