Sehen mit den Händen

von Martina Jansen (Kommentare: 0)

Sehen mit den Händen

Ein Leben in Dunkelheit und absoluter Stille

Michael Besten nimmt wie jede andere Person am Leben teil. Er geht ins Café, einkaufen, checkt seine Mails oder geht spazieren. Allerdings benötigt er dabei meistens Unterstützung. Sei es durch technische Hilfsmittel oder durch Mitmenschen. So findet die Kommunikation zwischen ihm und anderen Personen über einen Assistenten statt, denn Michael Besten ist taubblind.

„Ich habe nur noch einen geringen Sehrest und brauche daher jemanden, der ‚für mich sieht‘“, so Michael Besten. Seit 15 Jahren sieht Martina Lenz für den Holsterhausener. Ehrenamtlich begleitet sie ihn zweimal die Woche zum Einkauf oder sie unterhalten sich, wobei ihre Unterhaltung während des Spaziergangs weitgehend lautlos vonstattengeht.
Auf einen Blindenstock kann Michael Besten sich nicht stützen, da er aufgrund seiner Gehbehinderung eine Gehhilfe benötigt. Die zwei gehen nicht nebeneinander, Martina Lenz geht im Abstand von etwa drei bis vier Metern vor. Der 52-Jährige fixiert Martina Lenz und verlässt sich dabei völlig auf seine Assistentin, die für ihn den Weg im wahrsten Sinne des Wortes freimacht.

Foto oben rechts: Michael Besten und seine Assistentin Martina Lenz beim Spaziergang am Kanal

Unterhalten können sie sich nicht während des Gehens, dafür müssen sie stehen bleiben und warten, bis Michael Besten sein Gegenüber im Blickwinkel hat. Erst dann kann Martina Lenz mit einer Mischung aus Gebärden- und der Lormensprache mit ihm reden. Beim Lormen sind den Buchstaben bestimmte Punkte auf den Fingern zugeordnet. So wird jedes Wort aus den einzelnen Buchstaben zusammengesetzt und in die Hand des Taubblinden getippt.

Üblicherweise nimmt der Begleiter die Hand des Taubblinden und lormt in dessen Hand und umgekehrt. Häufig kommt aber auch vom Taubblinden die Rückantwort mittels Lautsprache. Da Michael Besten sich jedoch durch seine minimale Sehfähigkeit in Form eines Tunnelblicks den Rest seiner Selbstständigkeit erhalten möchte, gehen er und Martina Lenz etwas auf Distanz. So läuft er ohne sich festzuhalten und seine Assistentin lormt nicht in seine, sondern mit Blickkontakt in ihre eigene Hand. Beide haben somit ihren individuellen Weg gefunden, sich gegenseitig die größtmögliche Freiheit zu lassen Anders sieht es dagegen freitags aus, wenn sich Michael Besten mit seinem Freund Ludger trifft. Beide Männer sind gehörlos geboren, aber während Michael Besten noch Farben, Gegenstände und Menschen wahrnehmen kann, ist sein Freund komplett blind. Daher lormen sich die zwei gegenseitig in ihre Hände.

Foto oben rechts: Michael Besten und Martina Lenz im Gespräch

Auf Michael Besten aufmerksam wurde Martina Lenz durch Maria-Magdalena Besten. Sie suchte vor 15 Jahren jemanden, der gelegentlich mit ihrem Bruder etwas Zeit mit Spazierengehen verbringt. Sie dachte dabei an Jugendliche und wandte sich daher mit ihrer Bitte an das Jugendzentrum „Treffpunkt Altstadt“. Schnell stand es jedoch für die Mitarbeiterin des Treffpunktes fest, dass sie sich selber die Zeit dafür nehmen würde. „Ich ging damals eh jeden Tag eine Stunde mit meinem Hund spazieren, daher waren wir dann einfach zu dritt unterwegs“, erinnert sich Martina Lenz an die Anfänge ihrer Assistentenzeit. „Michael mochte meinen Hund und freute sich jedes Mal auf uns.“ Der Hund ist gestorben, aber die gemeinsamen Spaziergänge sind geblieben. Mehr noch: Martina Lenz erlernte die Gebärdensprache und das Lormen im Rahmen einer berufsbegleitenden Qualifizierungsmaßnahme zur Taubblindenassistentin. „Ich arbeite aber dennoch weiter ehrenamtlich, da der Bedarf an ehrenamtlichen Einsätzen für Taubblinde noch immens hoch ist. Ohne ehrenamtliche Assistenz müssten viele taubblinde Menschen zu Hause bleiben und würden von der Gesellschaft noch nicht mal wahrgenommen“, erklärt die Dorstenerin.

Maria-Magdalena Besten erlernte bereits früh in ihrer Familie die Gebärdensprache, denn auch zwei ihrer Schwestern litten an der Erbkrankheit „Usher-Syndrom“ und wurden gehörlos geboren. Als feststand, dass ihre ältere Schwester auch noch ihr Sehvermögen verlieren würde, stieg die ganze Familie aufs Lormen um. „Der eine lormt langsam, der andere hektisch, der eine berührt nur eben die Finger, der andere setzt mehr Druck in die Berührungen. So erkennst du, wer sich gerade mit dir unterhält“, erklärt Michael Bestens ältere Schwester.
 Sie selbst unterrichtete das Lormen bis vor zwei Jahren im Gehörlosenzentrum Recklinghausen und gründete dort auch zusammen mit anderen Betroffenen eine Selbsthilfegruppe für Taubblinde. „Wir hatten anfangs reichlich mit Schwierigkeiten zu kämpfen, erreichten jedoch schließlich mit vielen Helfern und Verantwortlichen, dass jetzt im achten Jahr die Assistentenausbildung durch das Land NRW finanziert wird“, freut sich die Holsterhausenerin.

Foto oben rechts: Maria-Magdalena Besten engagiert sich seit ihrer Jugend für taubblinde Menschen

Michael Besten wirkt zufrieden und nutzt alle Möglichkeiten, die ihm (noch) zur Verfügung stehen. Seine Ruhe erreicht er durch Thai Chi und Qi Gong Übungen, die er seit 20 Jahren täglich durchführt.
Auf die Frage, was sich Michael Besten von seinen Mitmenschen wünscht, antwortet er: „Es wäre schön, wenn sich andere Personen nicht zwischen mich und Martina stellen würden, ich verliere sonst die Orientierung.“
Da er gerne an der frischen Luft ist, würde der Dorstener sich sehr darüber freuen, wenn er auf diesem Wege einen Menschen finden würde, der sich ein wenig Zeit für ihn nimmt. Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, gerne ehrenamtlich Michael Besten ab und an auf seinen Spaziergängen begleiten möchten, dann melden Sie sich bitte unter martina.jansen@rswmedia.de. Ich gebe Ihre Kontaktdaten gerne an Michael Besten weiter.

Foto oben rechts: Meine Fragen übersetzt Martina Lenz, Michael Besten antwortet mir direkt

INFO
In NRW leben nach Auskunft der „Deutschen Gesellschaft für Taubblinde“ in Essen geschätzt 1900 taubblinde Menschen. Sie sind mehr als „nur“ blind und gehörlos, denn sie können das fehlende Hörvermögen nicht durchs Sehen ausgleichen. Daher wurde im Jahre 2004 die Taubblindheit in Europa als eigenständige Behinderung anerkannt. Deutschland entschloss sich dazu erst Ende 2016.
Die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB), ein Beratungsangebot speziell für hörsehbehinderte und taubblinde Menschen in ganz NRW, findet seit dem 1. April 2018 im Haus der Technik in Essen statt. Die Mitarbeiter dort sind mobil und fahren dorthin, wo Beratung gewünscht wird.
www.gesellschaft-taubblindheit.de

Text: Martina Jansen
Fotos: Christian Sklenak und privat

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