„560 Bomben haben uns alles genommen. Wir sind arm geworden“

von Martina Jansen (Kommentare: 0)

„560 Bomben haben uns alles genommen. Wir sind arm geworden“

Aus der Pfarrchronik St. Agatha über den Bombenangriff auf Dorsten am 22. März 1945

Am 22. März 1945 – heute vor 77 Jahren – zerstörte der größte Luftangriff auf Dorsten während des zweiten Weltkriegs die Innenstadt. Ab 14.15 Uhr warfen Kampfflugzeuge der britischen, kanadischen und amerikanischen Luftwaffe 380 Tonnen Luftminen und Sprengbomben ab. 80 Prozent der Häuser wurden zerstört, 700 Familien wurden obdachlos, 319 Menschen starben in dem Inferno.

In Dorsten wird alljährlich an diesen Tag erinnert – als Mahnung gegen den Krieg, als Aufruf zu Frieden und Freiheit. In diesem Jahr verbindet sich die Erinnerung mit unserem Blick auf den völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine. „Die Toten dieses Krieges ebenso wie die Geflüchteten, die auch bei uns in Dorsten Schutz und Hilfe suchen, zeigen uns, dass Frieden in Europa keine Selbstverständlichkeit ist“, sagt Bürgermeister Tobias Stockhoff.

Wie der Krieg an diesem 22. März 1945 in Dorsten gewütet hat, dazu hat Stadtarchivar Martin Köcher eine interessante Quelle gefunden, die Pfarrchronik der Gemeinde St. Agatha, die im Stadtarchiv in Kopie vorliegt. Die Einträge zu diesem Schicksalstag sind damals nicht aktuell geschrieben worden, sondern Propst Franz Westhoff hat im Januar 1946 begonnen, die Aufzeichnungen fortzusetzen. Die Notizen zur Zerstörung der Stadt sind aus der Erinnerung geschrieben. Dechant Dr. Stephan Rüdiger: „Unsere Kirche wurde damals zerstört. Der Neubau ist in gewisser Weise selbst ein Mahnmal, weil Trümmerteile im Mauerwerk verbaut wurden. So lebt die alte Kirche in der neuen weiter.“

Stadtarchivar Martin Köcher: „Wir lesen diesen Text und sehen die schwarz-weißen Bilder dazu und waren immer der Überzeugung, dass Krieg in Europa Geschichte ist und Geschichte bleiben wird. Heute schalten wir den Fernseher ein und sehen: Krieg ist wieder Gegenwart. Umso wichtiger bleibt es, dass wir uns die Schrecken immer und immer wieder vergegenwärtigen. Dazu kann die Geschichte einen Beitrag leisten.“

Aus der Chronik der Pfarrgemeinde zur St. Agatha in Dorsten 1945
„Der Chronist setzt die Aufzeichnungen fort im Januar 1946. Alle Unterlagen für die Zeit bis Mai/Juni fehlen, sie sind bei der Überflutung durch den Krieg zerstört worden. 1945 war ein böses Jahr. Es brachte den Untergang der ganzen Altstadt.

18. März: Erstkommunion! Sonst waren die Messen von 8-11 Uhr. Heute hielten wir die erste Messe mit Erstkommunion um 6 Uhr. Es war der letzte Termin. Donnerstag, 22. März, lag die Kirche in Trümmern. Nach dem 1. Bombardement brannte die Sakristei lichterloh. Der Turm mit seinem kostbaren Inhalt stand noch. Nach Süden hin war ein Loch geschlagen, durch das die Akten des Archivs zu sehen waren. Die Kaplanei hatte einen Volltreffer erhalten, Ursula eine ganze Reihe. Unter der zerstörten Ursulinenkirche fanden vielleicht 12 Menschen den Tod. Der Flügel mit den Schwestern und Soldaten des Lazaretts stand noch. Nach kurzer Zeit stand auch er in Flammen. Das Pfarrhaus hatte kein Dach, kein Fenster, keine Türe mehr. Es war nicht möglich noch zu bleiben. Die Kirchenbücher wurden mit viel Mühe über die Trümmer weg zu einem Wagen gebracht. Nach Ulfkotte hin zum Bauer Breil. Es war eine schwere Arbeit – über die Trümmer und Blindgänger weg. Das Nötigste wurde mitgenommen.

Der Pfarrgottesdienst war nun in Ulfkotte. Morgens und abends war in den ersten Tagen der Gang zur Kirche möglich. Bald hörte auch die Möglichkeit auf.

In diesen Tagen wurde Dorsten noch mehrere Male getroffen. Der Turm mit seinem kostbaren Inhalt, Schnitzaltar, Archiv – eines der größten der Diözese – und Paramente verbrannten. Die Hitze war so groß, dass, als im Oktober die Ruinen des Turms untersucht wurden, die Steine noch ganz heiß waren. Der Sachverständige für den Schutz der Baudenkmäler und Archive aus Münster hatte kurz vorher noch seine Befriedigung darüber ausgedrückt, dass die Dorstener Reichtümer so gut gesichert seien. 560 Bomben, die auf die kleine Altstadt geworfen wurden und gerade den weithin sichtbaren alten Turm zum Ziele nahmen, haben uns alles genommen. Wir sind arm geworden. Unsere Kirche ist nicht mehr. Kaplanei und alle anderen Häuser sind zerstört, das Pfarrhaus steht noch, aber wie!

Am Gründonnerstag hält der Pfarrer im Bunker von Dönnebrink die hl. Messe. Nachher rücken die Amerikaner ein. 48 Stunden werden vielleicht 70 Menschen in den Bunker von Breil eingesperrt. Wir sahen, wie die geretteten Kirchenkerzen von den Amerikanern zerschnitten und in die Autos verpackt wurden. Ebenso haben diese auch allen Messwein mitgenommen.

Am Karsamstag Nachmittag wurde dem Pfarrer gestattet, nach Dorsten zurückzukehren. Ostermorgen 10 Uhr las ich im Keller des Krankenhauses die hl. Messe. Einer der Patres, Pater Wunibald, hatte an all den furchtbaren Tagen im Krankenhause mit einigen Schwestern auch einigen Kranken standgehalten. Das Krankenhaus war zu einem Drittel zerstört. Es mögen 40 Tote in ihm geblieben sein, unter ihnen Herr Kaplan Dammann, der in den Weihnachtstagen 1944 aus dem zerstörten Meiderich krank hierhergekommen war und in Aussicht genommen war (= vorgesehen war) als Seelsorger der aus dem Rheinland nach Lippe-Detmold Evakuierten. Wochen später gruben wir ihn aus. Außer ihm die anderen vielen Toten unter denen auch vier Schwestern waren.

Die Begräbnisse wurden in diesen Tagen ohne Geistliche gehalten, nur vom alten Totengräber Appler, der vor den Bomben Schutz suchte in Grablöchern, die er gerade ausgeworfen hatte. Die Einsegnung der Toten erfolgte, wenn einer es wagen konnte, eben zum Friedhof zu gelangen. Manche unbekannten Toten mussten beerdigt werden. Eine Reihe Massengräber wurde ausgeworfen.

Die Schwestern tragen einmal selbst eine ihrer toten Mitschwestern auf einer Bahre hinaus, schaufelten selbst das Grab und begruben sie.“

Foto oben rechts:  Die Zerstörung rund um den Marktplatz

Text: Stadt Dorsten
Fotos: Stadtarchiv / Sammlung Biermann

Zurück